- Theater: Die Moderne im Spiegel der Theaterkonzepte
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»Theaterreform um 1900« - diese Bewegung markiert eine grundlegende Wende in der europäischen Theaterpraxis und -theorie. Sie läutete die Konstituierung des modernen Theaters zu Beginn des 20. Jahrhunderts ein, auch wenn sich Ansätze zur Modernität bereits im 19. Jahrhundert in der Regie und Schauspielkunst des Naturalismus finden lassen. Spätestens um 1900 war den neuen Entwicklungen im Theater nicht mehr mit den herkömmlichen Stil- und Epochenbegriffen beizukommmen, ganz zu schweigen vom Problem der Mehrdimensionalität des Kunstprodukts Theater: Neben den Text treten Schauspielkunst, Kostüm-, Bühnenbild und Regieansatz, deren Gewichtung das jeweilige Konzept bestimmt.Die Entstehung des modernen Theaters war von Anfang an ein europäisches »Unternehmen«, begünstigt nicht zuletzt durch den technischen Fortschritt und die damit verbundene zunehmende Mobilität. Seit dem Ende des 19. Jahrhunderts erweitert fast jedes Jahrzehnt die Grenzen des Theaters. Wesentlich für die moderne Entwicklung ist dabei die fortwährende Suche nach neuen Formen und Sprachen, die mit der Theaterreform um 1900 eingeleitet wurde. Zu den wichtigsten Vertretern gehören Adolphe Appia, Edward Gordon Craig, Wsewolod Mejerchold und Jacques Copeau.Trotz der unterschiedlichen theoretischen und weltanschaulichen Ansätze lassen sich zentrale Elemente herauskristallisieren, die die Theaterreform um 1900 als relativ homogene Bewegung erscheinen lassen und die den Paradigmenwechsel vom 19. ins 20. Jahrhundert markieren, der heute, vielfach modifiziert, immer noch gültig ist: Allen Reformern gemeinsam war die scharfe Kritik am illusionistischen Prinzip, das eine täuschende Nachahmung der Wirklichkeit auf der Bühne zu erreichen suchte. Abgelehnt wurde deshalb vor allem das naturalistische Theater als konsequenteste Ausformung des Illusionismus. Aufklärerisch-rationalistische Ansätze und jede Form von Psychologismus, wie sie das bürgerliche Theater beherrschten, wurden radikal infrage gestellt. Stattdessen forderten die Reformer die Betonung des Kunstcharakters der Inszenierung, die »Retheatralisierung« des Theaters. Das Theater befreite sich daher vom Diktat der literarischen Vorlage und entwickelte sich zu einer autonomen Kunstform. Das hatte eine neue Stellung des Regisseurs zur Folge: Er wurde anstelle des Dramatikers als eigentlicher Schöpfer des Theaterkunstwerks angesehen. Denn darin waren sich alle Reformer mit Edward Gordon Craig einig, dass »der Dichter nicht zum Theater gehört, dass er niemals vom Theater hergekommen ist und niemals zum Theater gehören kann.« Das Primat des Literaturtheaters fand ein Ende.Das Theater sollte für die hinter der Wirklichkeit verborgenen »ewigen« Prinzipien wie Ruhe, Harmonie und Schönheit Symbole finden. Einen wesentlichen Einfluss hatten dabei die Auseinandersetzung mit dem Werk Richard Wagners und die Orientierung an Friedrich Nietzsches Entwurf eines Theaters »aus dem Geiste der Musik«. Die Musik wurde neben der bildenden Kunst zu einem zentralen ästhetischen Grundpfeiler, der den Antirationalismus der Reformbewegung widerspiegelte. Neu entwickelt wurde auch die Schauspieltheorie. Sie definierte sich vor allem als »Kunst, den Körper zu bewegen«. Diesem Ideal kamen nach Auffassung der Reformer der Tänzer oder die Marionette am nächsten. Die Aktion des Schauspielers wurde immer wieder als Handeln aus dem Unbewussten beschrieben: als Zustände des Rausches, des Träumens und der Trance. Der klassische Charakterdarsteller passte in dieses Konzept nicht mehr hinein. Stattdessen dienten Masken- und Marionettentheater oder die Commedia dell'Arte als Inspirationsquelle. Die bildende Kunst wurde zum entscheidenden Faktor der szenischen Gestaltung, in der der Schauspieler neben Elementen wie Farbe, Licht und plastischen Bildteilen vor allem ein Träger von Bewegung und Rhythmus war. Die Selbstreflexion des schöpferischen Kunstprozesses stand im Vordergrund. In Anlehnung an Wagners Forderung nach dem Gesamtkunstwerk und Nietzsches Rekurs auf das antike Theater proklamierten die Reformer die Erneuerung der mythischen Ursprünge des Theaters als »Fest des Lebens«. Die Inszenierung als Gesamtkunstwerk, im Festspiel realisiert, entwarf die Utopie einer neuen »Volksgemeinschaft«.Kennzeichen der neuen Theaterkultur war die Forderung nach einer Ästhetisierung des Lebens: Das menschliche Dasein und die Welt seien, wie Nietzsche es formulierte, nur als »ästhetisches Phänomen« gerechtfertigt. Die politische Haltung der Theaterleute - mit Ausnahme von Mejerchold - war in der Regel konservativ, stand zum Teil sogar im Zeichen einer national-völkischen Ideologie, so unter anderem bei Appia. Das Theater als Fest - jenseits des kommerzialisierten Theaterbetriebs - hatte die Aufgabe, im Gemeinschaftserlebnis den Bann der Vereinzelung zu brechen, die Einheit von Kunst und Leben zu schaffen. In diesem Zusammenhang entstand auch das Interesse an Formen des Massentheaters, bei dem ein großes Aufgebot an Akteuren und riesige Statistenheere die Bühne beherrschten. Die Idee des Massentheaters führte bei Max Reinhardt ab 1910 zur Erschließung neuer Theaterorte: Nach dem Ersten Weltkrieg ließ er den Berliner Zirkus Schumann zu einem Arenatheater mit 3200 Plätzen umbauen. Außerdem nutzte Reinhardt später Wälder oder Parks, wie die Boboli-Gärten in Florenz, als Spielort. Das Interesse am Zuschauer, der an der Gestaltung der Aufführung teilhat - durch seine »Begeisterung«, durch die Teilnahme an der »Offenbarung des Lebens« - erwachte. Daraus ergaben sich vor allem Folgen für den Theaterbau, der als Geimschaftsraum konzipiert wurde. An dieser Entwicklung waren erstmals auch Architekten beteiligt. Statt des Guckkastentheaters mit seiner strengen Trennung von Bühne und Publikum forderte man das Arena- und Rundtheater. Die Bühnengrenze, die Rampe, sollte aufgehoben, Spielfläche und Zuschauerraum sollten stärker miteinander verbunden werden. Das »Theater als Fest« feierte die Einheit von Kunst (Bühne) und Leben (Publikum). Im »rauschhaften« Erlebnis sollten Darsteller und Zuschauer zu einer Einheit verschmelzen und so eine seelische Reinigung erfahren.Während die theaterästhetischen Neuerungen der Reformbewegung um 1900 vor allem aus konservativen Kreisen kamen, standen die Naturalisten, bei denen ein weitgehendes Desinteresse an theaterästhetischen Innovationen herrschte, in enger Verbindung zu Sozialreformen und einer Demokratisierung des Theaters (Volksbühnenbewegung). Trotz der radikalen Ablehnung durch alle modernen Theaterreformer sollte das illusionistische Theater noch bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts das Denken und die Praxis von Theater massiv prägen. Eng verknüpft war es vor allem mit dem theoretischen und theaterpraktischen Werk des russischen Regisseurs und Schauspielpädagogen Konstantin Stanislawskij. Seine Inszenierungen - vor allem von Werken Tschechows und Gorkijs - gelten als Höhepunkt des naturalistischen Theaters. Im Zentrum stand die absolut detailgenaue, möglichst illusionistische Reproduktion der Lebenswirklichkeit auf der Bühne. Für eine Ibsen-Inszenierung ließ Stanislawskij zum Beispiel Möbelstücke und andere Requisiten aus Norwegen herbeiholen; jedes Zimmer wurde orginalgetreu nachgebaut. Henrik Ibsen hatte nicht nur dem Naturalismus den Weg bereitet, sondern auch das Drama des Symbolismus durch sein Spätwerk mitbegründet. Er wirkte zum Beispiel noch auf den Amerikaner Arthur Miller mit seiner symbolistisch-realistischen Dramatik. Diesen symbolistischen Realismus hatte Eugene O'Neill in den USA begründet.Stanislawskijs Schauspieltheorie orientierte sich an der glaubwürdigen Darstellung: Seine Methode der »produktiven Einfühlung« - ab 1910 am Moskauer Künstlertheater entwickelt und immer wieder erweitert - zielte auf das Identifizieren von Schauspieler und Kunstfigur, die im Erleben zu einer Einheit verschmelzen sollten. Seine »Psychotechnik« wurde dann in Europa und den USA, dort zum Beispiel im Actors Studio in New York, adaptiert - auch für die Ausbildung von Filmschauspielern. Alle erneuernden Theatertheorien setzten sich von Stanislawskij ab, da sein Name unlösbar mit dem als bürgerlich verpönten psychologisierenden Illusionstheater verbunden war. Gegen diese Form von Psychologismus und Naturalismus setzte die Theaterreform Stilisierung und Abstraktion. Dabei ging es in erster Linie um die Herausbildung eines neuen Stils, keinesfalls aber um die grundsätzliche Ablehnung aller bis dahin geltenden Prinzipien.Mit dem Futurismus um 1910 setzte dagegen eine Entwicklung ein, die konsequent mit der Tradition zu brechen begann. Das herkömmliche bürgerliche Theater lehnten die Futuristen radikal ab: Provokation und Schockeffekte traten an die Stelle von »Einfühlung«, subjektive körperliche Empfindungen ersetzten die Reflexion. Stark beeinflusst von den Futuristen waren dann die sich 1916 formierenden Dadaisten mit ihren kabarettistischen Antiprogrammen, die Geräuschkonzerte oder Lautgedichte auf die Bühne brachten. Die französischen Dadaisten um André Breton gaben sich 1924 ein eigenes Programm: Ihr Rekurs auf das Unbewusste führte zur Manifestation des surrealistischen Theaters. Der französische Surrealismus brachte jedoch keine wirklich neuen szenisch-dramatischen Darstellungsformen hervor. Einzig der Regisseur und Theaterautor Antonin Artaud, der sich im Streit vom Kreis um Breton getrennt hatte, lieferte später für die Theoriebildung in den Sechzigerjahren ein grundlegendes Werk. Sein »Theater der Grausamkeit« (1932/33) besann sich auf die spontanen, rituellen, magischen, gestischen und illusionären Elemente des Theaters zurück und wollte den Zuschauer gleichsam wie in eine religiöse Handlung einbeziehen, magisch ergreifen und verändern. Unter »Grausamkeit« verstand Artaud den dem Zuschauer zugefügten ästhetischen Schock, der die im konventionellen Unterhaltungstheater bewahrte Distanz zwischen Bühne und Zuschauer zerstört und unerbittlich und rücksichtslos in die Gemüter der Zuschauer einzieht. Dabei halfen Schreie, Geheul, disharmonische Musik, Licht, Farbe und Masken.Bei aller Vielfalt und Gegensätzlichkeit lassen sich drei Aspekte herausgreifen, die den Avantgardebewegungen zugrunde liegen: Zentrales Kennzeichen der Theaterexperimente war die enge Verknüpfung mit der zeitgenössischen bildenden Kunst, was zu einem mehr oder weniger abstrakten Theater führte. Entscheidende Impulse gab dabei das Bauhaus, die 1919 in Weimar gegründete Schule für gestaltendes Handwerk, Architektur und bildende Künste. Am dortigen Werkstatt-Theater entstanden ganz unterschiedliche Bühnenbildentwürfe für ein politisches (Walter Gropius), für ein expressionistisches (Lothar Schreyer) oder ein »mechanisches Theater der Gegenstände« (Oskar Schlemmer), das ausschließlich mit Licht, Farben, Geräuschen und unbelebten Körpern arbeitete, für ein Figurentheater ohne menschlichen Akteur auf der Bühne. Hier kündigt sich bereits die spätere Performance an. In der Regel fanden solche Experimente über avantgardistische Künstlerkreise hinaus jedoch kaum Anklang. Ein zweites Kennzeichen war die Inanspruchnahme von »unkünstlerischen«, trivialen Genres oder Medien. Die Prinzipien der Montage und Collage wurden auf das Theater übertragen. Varietee, Zirkus, Sport, Film oder Bildprojektionen präsentierten sich in lockeren Programmen. Provokation, Schock, Sensation wurden gegen die Identifikationshaltung der konventionellen Kunstrezeption gesetzt. Zum Dritten galt es, die »untheatralischen« öffentlichen Bereiche bewusst zu theatralisieren: Man gestaltete unter anderem Soireen als Happening, bei dem zum Beispiel das Werfen von Eiern zur Kunsthandlung deklariert wurde. Das Publikum wurde dabei durch vorprogrammierte Skandale und Provokationen zum unfreiwilligen Hauptakteur. Die Trennung von Spiel (Theater) und Ernst (Leben) wurde aufgehoben in einer neuen Kunst-Leben-Identität.Das ebenfalls um 1910 aufkommende expressionistische Theater - in seiner gesellschaftskritischen (Carl Sternheim) und seiner mystisch-religiösen Richtung (Ernst Barlach) - unterschied sich dagegen inhaltlich deutlich von den avantgardistischen Theaterexperimenten der Futuristen und Dadaisten. Es erreichte über den traditionellen Theaterbetrieb - zum Beispiel am Deutschen Theater in Berlin durch die Förderung von Max Reinhardt - eine breite Öffentlichkeit. Das expressionistische Theater definierte sich als Ausdruck (Expression) des schöpferischen Individuums. Zentral wurde die übergeordnete abstrakte Idee, die auf die Wiedergeburt des idealen Menschen, auf die totale Erneuerung der bürgerlichen Kultur zielte. Als Ort der »Ekstase« und der »magischen Kommunikation« ist es ein von sozialen Problemen losgelöster Versuch der Erneuerung. Getreu der Auffassung, dass das Bild der Welt nur »im Menschen selbst« liegt, schöpfte der expressionistische Künstler aus seiner inneren Erfahrung. Psychische Aspekte wurden personifiziert und als Figur auf der Bühne dargestellt, zum Beispiel Angst, Hass oder Liebe. Das führte für den Schauspieler zu einer starken Aufwertung der Mimik und Körpersprache, die allerdings zuweilen in übertriebene Pathetik ausartete.Beeinflusst von August Strindbergs »Traumspiel«, entwickelte sich eine neue Form von Literaturtheater: das Stationendrama mit Arnolt Bronnen, Walter Hasenclever, Oskar Kokoschka, Paul Kornfeld, Ernst Toller und Georg Kaiser als wichtigen Vertretern. Das Stationendrama unterlag keinem kontinuierlichen Zeitablauf, sondern präsentierte einzelne, in sich geschlossene Spielkomplexe. Traum, Fantasie und Märchenwelt, Irreales und Reales standen bruchlos nebeneinander, verknüpft nur im Erleben des Protagonisten. Formal orientierte sich die abstrakte und antinaturalistische Ästhetik des expressionistischen Theaters an Elementen der Theaterreform und der Avantgardebewegungen; so übernahm sie die rhythmisierte Darstellung, die architektonisch gegliederte Bühne, die symbolhafte Verwendung von Farben und den Gedanken von der Autonomie des Kunstwerks. Im Zentrum stand jedoch wieder das menschliche Wesen als (Ideen-)Träger des Bühnengeschehens. Darüber hinaus wurde die neue expressionistische Ästhetikauffassung bald auch auf klassische Werke übertragen. Anstelle der Ehrfurcht vor dem Dichterwort entstand jetzt das Interpretationstheater.Die ideologische Ausrichtung des Theaters (Inhalt) und die ästhetische, am Stil orientierte Erneuerung (Form) waren zuweilen miteinander verknüpft, oft aber auch einander entgegengesetzt: Einige Theaterpraktiker adaptierten die Form der einen Richtung, aber die politischen Inhalte einer anderen, was die klare Abgrenzung der einzelnen Strömungen erschwert. Im Dadaismus gab es beispielsweise eine starke politische Haltung wie bei Richard Huelsenbeck, aber auch die ausschließliche Ausrichtung am Kunstprozess, etwa bei Kurt Schwitters. Besonders deutlich wird diese Problematik bei der Definition des politischen Theaters, das sich in Anlehnung an Erwin Piscators Buch »Das politische Theater« (1929) zum neuen Schlagwort entwickelte, obwohl sich das Theater schon seit der Antike mit politischen Fragen beschäftigte. Auch das naturalistische Theater verfolgte mit der Abbildung des sozialen Elends auf der Bühne politische Tendenzen, ebenso wie Mejercholds »bedingtes Theater«.Das politische Theater des frühen 20. Jahrhunderts steht in enger Verbindung mit der russischen Oktoberrevolution 1917 und der Novemberrevolution 1918 in Deutschland. Zielpublikum war in der Regel die Arbeiterschaft. Probleme des Klassenkampfes sollten von nun an das Bühnengeschehen bestimmen. Doch während das revolutionäre proletarische Theater in der Sowjetunion zunächst als Teil der Kulturrevolution begrüßt wurde, war es in Deutschland permanenter Zensur und Verfolgung ausgesetzt. Ästhetisch knüpfte das politische Theater der Zwanzigerjahre - in der Sowjetunion wie in Deutschland - an einfache Spielformen des Volkstheaters wie Commedia dell'Arte, Jahrmarkttheater, Zirkus und Revuetheater an. Ermöglicht wurde so der hautnahe Kontakt mit dem Publikum durch unmittelbare Ansprache, die Verbindung von agitatorischen und didaktischen Elementen durch spontanen Spaß, Situationskomik, Klamauk und Slapstick. Genutzt wurden auch die neuen Medien: Hörfunk, Bildprojektionen und Film sowie die technischen Errungenschaften für die Bühne, etwa die Drehbühne und variable Bühnenbilder. Im »episierten« Drama wurden aktuelle Entwicklungen und Probleme thematisiert: Nicht mehr die Konzentration auf die Handlungen eines Protagonisten stand im Vordergrund, sondern vielmehr die Darstellung von sozialen Milieus und komplexen gesellschaftlichen Zusammenhängen. In vielen europäischen Ländern wurden in der zweiten Hälfte der Zwanzigerjahre häufig mit Laiendarstellern arbeitende Agitproptheater gegründet, die ihre Aufgabe in »Agitation« und »Propaganda« sahen. Mit theatralischen Mitteln sollten sie die Ziele der kommunistischen Parteien vorantreiben.Eine Grundform des politischen Theaters ist die einfache politische Revue mit starkem agitatorischem Charakter, häufig in Form des Straßentheaters. Zweite Grundform ist das von Bertolt Brecht in den Zwanzigerjahren entwickelte »epische Theater«, eine im marxistischen Sinn theoretisch fundierte Form des modernen Theaters und Dramas. »Episch« wird dabei nicht im Sinne eines Gattungsbegriffs verstanden, sondern als Einstellung und Methode. Das epische Theater baut im Bereich des politischen Theaters am stärksten auf der Sprache auf. Zentrales Wirkungselement ist der Verfremdungseffekt, der die Illusion brechen und der Demonstration eines Sachverhaltes dienen soll. Theatralische Mittel dieser Dramaturgie sind beispielsweise das Beiseitesprechen, die direkte Ansprache des Publikums oder der Chor. Eingeschobene Lieder und Songs kommentieren die szenische Aktion. Der Schauspieler soll sich in seine Rolle nicht einfühlen, sondern die verschiedenen Motive seiner Figur demonstrieren, sie kommentieren. Anhand des Verfremdungseffekts sollen die gesellschaftlichen Widersprüche (dialektisches Theater) aufgedeckt und der Kritik freigegeben werden. Der Zuschauer soll zu einer kritischen Beobachtung des Gezeigten im Sinne einer möglichen Veränderung gesellschaftlicher Verhältnisse geführt werden. Brechts episches Theater zielt weniger auf Agitation als vielmehr auf eine argumentierende Form der Aufklärung. Es ist allerdings mit den Produktionsbedingungen und -möglichkeiten des konventionellen Theaters eng verknüpft. Als paradigmatische Verwirklichungen der brechtschen Grundsätze des epischen Theaters gelten die Oper »Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny« (1930) mit der Musik von Kurt Weill oder das Bühnenstück »Mutter Courage und ihre Kinder« (1941). Auch sonst sind im modernen Drama epische Strukturen zu finden, so bei Thornton Wilder seit den Dreißigerjahren. Weitergeführt wird Brechts pädagogisches Theater in seinen Lehrstücken. Die Grenze zwischen Zuschauer und Spieler ist dabei aufgehoben. Es gibt nur Mitspieler. Gegenstand der Stücke sind in der Regel »asoziale« und unpolitische Verhaltensweisen, die von den Ausführenden nachgespielt und praktischer Kritik unterzogen werden. Nach Brecht hat vor allem Heiner Müller die Lehrstücktheorie aufgegriffen (»Mauser«, 1970). Er nutzte sie aber vor allem, um unlösbare Widersprüche aufzuzeigen.Als dritte Grundform des politischen Theaters gilt das »Dokumentartheater«, zuerst genutzt von Erwin Piscator. Es verwendet authentische Dokumente wie Zeitungsausschnitte, Reden und Flugblätter, die parteilich als Beweisstücke präsentiert werden, um zeitgeschichtliche Ereignisse zur Diskussion zu stellen. An diese Tradition knüpften in den Sechzigerjahren Autoren wie Peter Weiss, Rolf Hochhuth oder Heinar Kipphardt an, die Themen der jüngsten Vergangenheit behandelten, wobei die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus eine herausragende Rolle spielte. Das konventionelle realistische Theater, die vierte Grundform des politischen Theaters, beeinflusste vor allem die Theaterentwicklung der sozialistischen Länder. Politische Zusammenhänge wurden hier eindeutig parteilich behandelt.In den ersten drei Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts sah man das Theater als eine Institution, die fähig war, eine neue Kultur zu schaffen. Die Installierung der nationalsozialistischen Herrschaft und der Zweite Weltkrieg setzten dieser produktiven Entwicklung eine deutliche Zäsur. In Deutschland mussten viele Künstler schon 1933 ins Exil flüchten; diejenigen, die blieben, riskierten oder verloren ihr Leben, zum größeren Teil beugten sie sich dem politischen Druck. Das Theater wurde für Propagandazwecke missbraucht. Nach Nationalsozialismus und Krieg rückte in den Fünfzigerjahren weniger das Interesse am steten Diskurs in den Mittelpunkt als vielmehr das Theater als Musentempel, als Ort von gesellschaftlicher Repräsentation und Festlichkeit. Zeitlose Klassikerinszenierungen standen bevorzugt auf den Spielplänen. Sie entsprachen im Wesentlichen den bürgerlichen Vorstellungen von Kunst und hielten meist entsprechende Distanz zu alltäglichen Problemen. Fritz Kortners moderner Regie-Ansatz von Schillers Drama »Don Karlos« im Berliner Hebbel-Theater (Karlos im Overall, »vielleicht ein Autoschlosser«) löste dagegen 1950 mit seinen aktuellen Bezügen einen heftigen Theaterskandal aus.Auch das aus Frankreich kommende »absurde Theater« von Eugène Ionesco, Arthur Adamov und vor allem Samuel Beckett, das zum Beispiel in Stanisław Ignacy Witkiewicz mit seiner Theorie von der »reinen Form« einen bedeutenden Vorläufer hat, irritierte und provozierte das Publikum. Stücke wie Becketts »Warten auf Godot« (1952) enthüllen unter Verzicht auf eine stringente Handlung die Situation des Menschen in einer sinnentleerten Welt, in der auch die zwischenmenschliche Kommunikation verkümmert ist. Charakteristisch sind unter anderem widersinnige Dialoge, Übersteigerung des Banalen und permanente Wiederholungen, das Zurücklaufen des Endes in den Anfang. Mit seinen tragikomischen und oft marionettenhaft handelnden Figuren setzt sich das absurde Theater, zu dem in der englischsprachigen Literatur auch Harold Pinter und Edward Albee, in der deutschen Thomas Bernhard und Peter Handke beigetragen haben, deutlich von psychologischen und realistischen Dramen ab - zum Beispiel von den Stücken Jean Anouilhs, der an der Tradition der französischen psychologischen Komödie mit ihren geistreichen, heiter ironischen und skeptischen Dialogen festhielt. In kommunistisch regierten Ländern richtete sich eine dem absurden Theater verwandte, satirische Dramenart gegen Absurditäten der totalen Geistes-, Gewissens- und Lebensverplanung, der Sprachregelung und der Bürokratie. In diesem Sinne schrieben zum Beispiel der Tscheche Václav Havel und der Pole Sławomir Mrożek ihre Stücke.Mitte der Sechzigerjahre - und dann besonders seit den Studentenrevolten 1968 - begann man sich wieder stärker mit politischen Themen und theaterästhetischen Fragen auseinander zusetzen und knüpfte vielfach an die Avantgardebewegungen der Zwanzigerjahre wieder an - an politisches Straßentheater, Kabarett, Varietee, Revuen, Dokumentartheater sowie kritisches Volkstheater, wie es Wolfgang Bauer, Franz Xaver Kroetz und Martin Sperr in der Nachfolge von Ödön von Horváth, Marieluise Fleißer und Carl Zuckmayer weiterführten.Die zentralen Impulse für die Theoriebildung nach dem Zweiten Weltkrieg gingen von den beiden Antipoden Artaud und Brecht aus. Artaud hat zwar in den Avantgardebwegungen der Zwanziger- und Dreißigerjahre seinen Platz, wirkungsgeschichtlich wird er aber - ähnlich wie Brecht - vor allem für die Theaterentwicklung der Sechziger- und Siebzigerjahre interessant. Für die deutsche Nachkriegsdramatik war Brecht das Vorbild; seine direkten Nachfolger sind die Schweizer Max Frisch sowie Friedrich Dürrenmatt, der effektvolles, häufig groteskes Theater bot. Dahinter steht die Kritik eines Moralisten an Widersprüchen und Selbsttäuschungen seiner Zeit, auch religiöse Motive klingen an. Dürrenmatt war überzeugt, dass in der modernen Welt die Form der Tragödie unmöglich geworden ist; ihr gemäß sei nur noch die schaurig-groteske Komödie.Überall in Europa entstanden freie Theatergruppen - Anreger und Vorläufer ist das 1951 in New York gegründete und 1965 nach Berlin ausgewanderte »Living Theatre« -, die sich gegen die als hierarchisch empfundenen Machtstrukturen des bürgerlichen Theaterbetriebs wandten. Der Zuschauer sollte aus seiner Passivität »erlöst« werden, angesprochen wurde ein breites, schichtenunspezifisches Publikum. Gefordert wurde die Emanzipation von Schauspielern und Regisseur. Im Theaterkollektiv sollten alle gleichberechtigt zusammenarbeiten und -leben. Prinzipiell durfte jeder seine Ideen einbringen und umsetzen. Das klassische Literaturtheater wurde weitgehend abgelehnt, die Stücke anhand von Improvisationen gemeinsam entwickelt und geschrieben. Bühnenbild, Kostüme oder Regie sollten als Gemeinschaftsproduktion erarbeitet werden. Diese kollektive Form der Theaterarbeit wurde kurze Zeit auch an Staatstheatern erprobt, zum Beispiel unter Peter Stein an der Schaubühne am Halleschen Ufer.Als Spielorte dienten ausrangierte Werkräume wie Richard Schechners »Performance Garage« in New York, Fabriken wie Ariane Mnouchkines »Théâtre du Soleil« in einer ehemaligen Pulverfabrik (»cartoucherie«) in Vincennes oder ein Filmatelier, wo zum Beispiel das »Shakespeare-Projekt« der Schaubühne am Halleschen Ufer realisiert wurde. Ob auf Straßen, im Park oder in Zirkuszelten, ob in Wohnzimmern, Schaufenstern von Kaufhäusern oder im Gefängnis - es gab kaum einen Ort, an dem Theater nicht möglich war. Durch eigene Festivals - auch die Rock- und Popkultur nahm Einfluss - und »Workshops«, bei denen neue Arbeitsformen praktisch erprobt wurden, entwickelte sich schnell ein hoher Grad an internationaler Verflechtung.Einige Gruppen stellten - unter Einfluss der Antirassismus-, Bürgerrechts- und Studentenbewegung - stärker soziale und politische Themen in den Vordergrund, zum Beispiel die »San Francisco Mime Troupe« in den USA, »La Comune« um Dario Fo in Italien und die Berliner Theatermanufaktur in Deutschland. Andere wie Peter Brook in Großbritannien oder Eugenio Barba vom Odin Teatret in Dänemark betonten mehr das Darstellen und Ausleben von Emotionalität und Körperlichkeit. Leitfigur wurde hier der polnische Regisseur Jerzy Grotowski mit seinem »armen Theater«.Ähnlich wie Artaud versuchte Grotowski das Theater zurückzuführen zu einer eigenen (Körper-)Sprache. Seine Inszenierungen verstanden sich als Ritual der Selbstfindung, als »neue Form des Gottesdienstes«, wie der Regisseur Peter Brook schrieb. Kritisiert wurde dabei auch die zunehmende Entfremdung des Individuums durch die Verbreitung der neuen Massenmedien wie Film, Hörfunk, Schallplatte und Fernsehen. Die Wahrnehmung geschehe nur noch gefiltert, aus zweiter Hand. Bedeutung gewann zunehmend die Präsentation des nackten Körpers auf der Bühne. Nacktheit wurde jetzt definiert als Weg der Selbsterkenntnis, als totale Hingabe. Ins Zentrum der Schauspieltechnik rückten fernöstliche Meditationstechniken und Methoden der Körpererfahrung wie Zen, Yoga oder Tai-Chi. Westliche Theatermacher wie Ariane Mnouchkine, Peter Brook und Robert Wilson bedienten sich formal aus dem Theaterfundus der asiatischen und afrikanischen Welt, etwa dem indischen Tanztheater Kathakali, dem japanischen lyrischen Tanzdrama Nō oder der japanischen »bürgerlichen« Schaukunst Kabuki, die Schauspiel, Tanz und Musik vereint.Gegen Ende der Siebziger-, Anfang der Achtzigerjahre zeichnete sich dann eine neue Phase des Gegenwartstheaters ab. Auffällig ist zweifellos eine allgemeine Ernüchterung: Der Glaube an die gesellschaftsverändernde, revolutionäre Wirkung des Theaters ist vielfach verloren gegangen. Der Politisierung von Bühne und Drama folgte der Rückzug auf die subjektive und künstlerische Innenwelt, der eine Phase erneuter Ästhetisierung einleitete. Protagonisten sind Handke und Botho Strauß, auch Gerlind Reinshagen, die das Leiden an der Geschichte als individuelle Verstümmelung zeigte. Schon zu Beginn des Jahrhunderts, aber spätestens seit den Siebzigerjahren wurden auch die Grenzen der einzelnen Genres immer brüchiger. Tanz, Sprechtheater, Musik und bildende Kunst befruchteten sich gegenseitig, führten schließlich zu künstlerischen Grenzformen wie Tanztheater oder Performance. In Deutschland verzaubert der amerikanische Regisseur Robert Wilson seit Ende der Siebziger-, Anfang der Achtzigerjahre das Publikum mit seinem poetischen und subjektiven Theater der Bilder, einem ästhetischen, multimedialen, sinnlichen Theater der Postmoderne, das auf Bedeutungen verzichtet. Wilson, der die Welt nicht interpretieren will - seine rätselhaften, eindrucksvollen Bilder selbst sind die Botschaft -, fordert die imaginative Mitarbeit des Zuschauers.Experiment, Neudefinition, Auflösung und Erweiterung der Grenzen: Fast alle neuen Theaterkonzepte im 20. Jahrhundert wurden gegen den als »bürgerlich« verpönten klassischen Theaterbetrieb entworfen. Die traditionellen Strukturen blieben dennoch bis heute vielfach erhalten. So werden die Spielpläne in Deutschland vor allem von Klassikern dominiert. Auch die Architektur der Stadt- und Staatstheater ist nach wie vor durch das alte Guckkastenprinzip gekennzeichnet. Selbst die freien Theater sind mittlerweile fester Bestandteil der staatlich geförderten etablierten Kultur, wenn auch mit Mini-Etats.Anne-Jelena HilpertAmerikanische Literaturgeschichte, herausgegeben von Hubert Zapf. Stuttgart u. a. 1997.Brauneck, Manfred: Theater im 20. Jahrhundert. Programmschriften, Stilperioden, Reformmodelle. Reinbek 81998.Englische Literaturgeschichte, herausgegeben von Hans Ulrich Seeber. Stuttgart u. a. 21993.Klotz, Volker: Bürgerliches Lachtheater. Komödie — Posse — Schwank — Operette. Lizenzausgabe Reinbek 1987.Rühle, Günther: Theater in unserer Zeit. 3 Bände. Frankfurt am Main 1-31982—92.
Universal-Lexikon. 2012.